Als Literaturwissenschaftlerin empfehle ich „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ zur Halloween-Lektüre. Der furiose Roman der erst 18-jährigen Mary Shelley (1797-1851) entstand während eines verregneten Aufenthalts am Genfer See im Jahr 1816. Shelley und ihre Freunde, u.a. der Dichter Lord Byron, lasen gemeinsam an den langen Abenden Ghost Stories, diskutierten über Themen, wie Somnambulismus, und über die Experimente des Mediziners Erasmus Darwin, der kurz zuvor behauptet hatte, Segmente toter Würmer im Reagenzglas belebt zu haben. Im Rahmen eines Wettbewerbs wurde verabredet, dass jeder der Beteiligten einen Schauerroman schreiben solle. Ein Traum, so Mary Shelley im Vorwort ihres 1818 anonym veröffentlichten Romans, habe ihr die Idee zu der Geschichte des ehrgeizigen Wissenschaftlers Victor Frankenstein eingegeben, der aus Leichenteilen und mit Hilfe von elektromagnetischer Spannung eine menschenähnliche Kreatur erschafft.
Der Roman ist für heutige Leser:innen äußerst spannend – auch deswegen, weil dort zum ersten Mal in der Literaturgeschichte ein künstlich geschaffenes Wesen aus der Ichperspektive erzählt. In einigen Kapiteln berichtet das halbmenschliche Wesen im Zwiegespräch mit seinem Erschaffer von den Anfängen seines Daseins nach dem Verlassen des Laboratoriums: von seiner Weltaneignung, seinem Spracherwerb und seiner autodidaktischen Bildung (es hat sogar, so Shelleys Idee, Goethes „Werther“ gelesen). Vor allem aber berichtet das Wesen von den sozialen Zurichtungen durch die Menschen, die es aufgrund der Ablehnung seines hässlichen Äußeren überhaupt erst zu einem ‚Monster‘ und Mörder haben werden lassen.
In einer merkwürdigen Verschiebung vom Erschaffer auf sein Geschöpf – in der Literaturwissenschaft „Metonymie“ genannt – denken viele Menschen, „Frankenstein“ sei der Name des Monsters und nicht der des Erschaffers. Dies liegt wohl auch daran, dass die als unheimlich wahrgenommene Kreatur besonders durch die vielen Verfilmungen des Stoffs bekannt geworden und Teil des Bildgedächtnis der Moderne geworden ist. So wurde die Verkörperung durch den Schauspieler Boris Karloff in der Verfilmung von James Whale (1931) – die unbeholfenen mechanischen Bewegungen, der breite Schädel mit maskenhaftem Antlitz und Narben – zum Inbegriff des ‚Frankensteinischen‘, obwohl die Kreatur bei Shelley selbst keinen Namen trägt.
Literaturangabe zur deutschsprachigen Ausgabe:
Mary Shelley: Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818/1831). Aus dem Englischen übersetzt von Ursula und Christian Grawe. Anmerkung und Nachwort von Christian Grawe. Ditzingen: Reclam 2018.
Anne-Kathrin Reulecke ist Universitätsprofessorin am Institut für Germanistik im Fachbereich „Neuere deutsche Literatur“ und Sprecherin des neu eingerichteten Strukturierten Doktoratsprogramms „Transformationen des Humanen“ (https://gewi.uni-graz.at/de/unsere-forschung/doktoratsprogramme/)